Künstlerportrait (PDF-Datei, 4,6 MB)

Übermalungen

Ein künstlerischer Prozess ist niemals auf das Erschaffen vollkommener Werke beschränkt. Stetiges Erforschen, Experimentieren, Versuchen und Versagen sind der künstlerischen Arbeit immanent Auf der ideellen Ebene sind alle Handlungen ineinander verwoben, womit jeder Erkenntnis, jedem Entwurf oder misslungenen Versuch eine gleiche Bedeutung beizumessen ist. Auf der materiellen Ebene hingegen ist eine solche hierarchiefreie, allumfassende Ansicht nicht möglich. Die Endlichkeit von Raum und Zeit bestimmt die Form, in der ein künstlerisches Werk erfasst wird. Hierbei spielen Klassifizierungen, Kategorisierungen sowie Auswahlkriterien eine notwendige Rolle. Was ist wann und wo zu zeigen? Was ist nur für den internen Prozess relevant?

In diesem Zusammenhang stehen Arbeiten, die das Atelier nicht verlassen gelegentlich unter Revision. Mit zeitlichem Abstand entpuppen sich einige Werke als uninteressant bzw. unrettbar. Demzufolge entsteht die Frage: Was ist mit diesen Arbeiten konkret zu machen? Hebt man sie trotzdem als Teil des Prozesses auf? Oder räumt man sie aufgrund der räumlichen Begrenzung endgültig weg? Dörte Lützel-Walz hat sich mit dieser Problematik konfrontiert und diese für eine künstlerische Auseinandersetzung fruchtbar gemacht. Daraus ist die Bildserie „Übermalungen” entstanden. Ein mehrschichtiger Arbeitskorpus, der eine Sonderstellung in ihrem Werk einnimmt und zu näherer Betrachtung einlädt.


Das Übermalen hat eine lange Tradition in der Bildenden Kunst. Die absichtliche Überdeckung bereits angelegter Bildpartien war schon bei den Alten Meistern ein gängiges Prozedere, wie es technische Untersuchungen offenlegen. Diese sogenannten Pentimenti (von ital. pentirsi , deutsch bereuen ) weisen auf Veränderungen während des Entstehungsprozesses hin, die hinter dem fertigen Bild versteckt worden sind. Als Mitte des 20. Jahrhunderts der Schaffensprozess selbst zum Thema der Malerei wurde, wurden die während der Bildentstehung durchgeführten Korrekturen dagegen bewusst offenbart und als Bildelement in die Komposition integriert. Bereuen und Verstecken oder Akzeptieren und Integrieren: Es sind zwei Arten, auf die Übermalungen in verschiedenen kunsthistorischen Kontexten verstanden und durchgeführt wurden. In diesen gegensätzlichen Herangehensweisen bleibt jedoch etwas unverändert: Jedes Werk hat seinen Anfang in der Leere der unberührten Malfläche. Hierzu vertritt der österreichische Künstler Arnulf Rainer eine andere Position. Seit den 1950er Jahren hat er sowohl eigene als auch fremde Bilder als Startpunkt seiner Arbeiten gewählt. Dabei versteht er das vorhandene Bild als Teil des neuen Werkes, wodurch eine mehrschichtige Bildrealität entsteht. Das Übermalen wird bei Rainer zum Prinzip eines fortwährenden Gestaltungsprozesses, der das Schöpfen dem Transformieren gleichsetzt. An diesen Ansatz knüpft Dörte Lützel Walz bei ihren „Übermalungen” an.

Anders als Rainer nimmt Lützel-Walz für ihre Serie ausschließlich eigene Werke, welche sie nach einer Revision aussortiert hat. Das Arbeiten auf vorhandenen Bildern stellt die Malerin, konzeptionell wie technisch, vor besondere Herausforderungen.
Konzeptionell stellt der Umgang mit der leeren, ungrundierten Malfläche ein zentrales Prinzip von Lützel-Walz Malerei dar. Vor dem `Nichts` zu stehen gibt ihr den nötigen Freiraum um von ihrer Intuition und ihrem Farbgespür geleitet, in den Schaffensprozess einzutauchen. Die Konfrontation mit einer existenten Bildrealität bedeutet eine Umkehrung dieses Prinzips. Denn um ins Malen zu kommen, muss sie zunächst achtsam betrachten, auf sich wirken lassen und letztlich entscheiden, was sie überdeckt oder was sie frei stehen lässt. Das bedeutet eine Verlagerung vom intuitiven Agieren hin zum bewussten Reagieren, wie sie es selbst erklärt.

Bei einigen Arbeiten, wie z.B. Entschieden, 2009/2020 sind es eher formale Aspekte, die sie zum transformativen Malakt anspornen. Welche Farbe ist der schon existenten entgegen zu setzen? Wie lässt sich das lebendige doch informell anmutende Hintergrundbild strukturieren oder beruhigen? In anderen Fällen sind die Stimmungen der alten Bilder schlüssig, welche das Echo eigener, innerer Verfassungen sind. Beim Übermalen versucht sie diese wiederzuerwecken und zu intensivieren. Die Bedeutung, welche die achtsame Betrachtung bzw. Nachempfindung der eigenen Werken in diesem Prozess hat, spiegelt sich in doppelten Titeln wie Regenwald/Im Dunkel, 2012/2019 wieder. Lützel-Walz hat einmal über ihre Kunst pointiert gesagt, dass es ihr dabei um die Abstraktion dessen geht, was sie beim Anblick Naturphänomenen gefühlsmäßig bewegt. Bei den „Übermalungen” lässt sie sich hingegen auf ein selbstreflexives Nachempfinden bzw. ein Nachjustieren dieser Abstraktion ein.

Diese Distanzierung von festen Grundzügen ihrer Malerei war insbesondere auf der technischen Ebene herausfordernd. Für die Malerin, die das Fließenlassen der Farben auf ungrundiertem Nessel zur Alleinstellungsmerkmal gemacht hat, bedeutet die Präexistenz von Farbschichten eine erhebliche Veränderung ihres Malverfahrens. Das Spiel von organischen Farbspuren und Rinnsalen, das sie normalerweise durch Schütten fließender Farben erzeugt, funktioniert auf einem beschichteten Gewebe nicht. Um Farbe aufzutragen, muss Lützel-Walz diesmal zu den Pinseln greifen. Mit tastender Hand bringt sie, mal deckender, mal transparenter, neue Farbschichten auf, die sie mit dem Hintergrundbild interagieren lässt. Hierzu übernimmt sie experimentierfreudig die Technik der Tape Art. Durch Kleben, Übermalen und wieder Abziehen lässt sie Rahmen oder Formen entstehen, die in Werken wie Verfestigt, 2013/2019 freistehende Partien des Hintergrundbildes zeigen oder in anderen wie Blau im Regen/Vernebelt, 2011/2019 kontrastierend deckend übermalt werden.

Genau diese klaren, definierten Kanten überraschen zunächst beim Betrachten dieser neuen Werke, denn in der Bildsprache von Dörte Lützel-Walz sind sie ein Novum. Gelenkte Laufspuren, die das Informelle in gewissem Maße strukturieren, sind in ihrer Malerei zwar immer präsent gewesen, aber diese zeichnen sich durch ihren organischen, unregelmäßigen Charakter aus, wie in den Werkserien Stille Wasser , Backwater oder Darüber Rot deutlich zu erkennen ist. Im Vergleich dazu geht von den durch das Klebeband erzeugten Kanten eine geometrische Strenge aus, die den Kompositionen eine konstruktivistische Anmutung verleiht. An dieser Stelle ließe sich folgern, dass die Malerin bedingt durch die konzeptionellen und technischen Herausforderungen, die ihr das Übermalen gestellt hat, zu einer Erneuerung ihrer Bildästhetik gekommen ist. Doch das eigentlich Besondere an ihren „Übermalungen” ist die vollkommene Verschmelzung, die zwischen Bekanntem und Unbekanntem stattfindet. Hierbei unterscheiden sich ihre „Übermalungen” deutlich von den „Overpaintings” eines Arnulf Rainers, bei denen vom Hintergrundbild nur kleine Partien am Bildrand frei stehen, während der Großteil hinter der Verdichtung unzähliger Farbschichten begraben bleibt. Dörte Lützel-Walz bringt dagegen ihre Farben in Form subtiler Verschleierungen auf die Malfläche, wodurch sie eine lebendige, atmende Wechselwirkung zwischen den bestehenden und den entstehenden Bildern erzeugt.

Das Ringen mit dem Malen auf präexistenten Bildern hat sie durch eine achtsame Wahrnehmung, einen spielerischen Einsatz neuer Techniken und die Fortsetzung zentraler Grundzüge ihrer Malerei gemeistert. Damit ist es ihr gelungen sich malerisch zu erneuern und sich gleichzeitig treu zu bleiben sowie eine eigene Bildsprache des Übermalens zu artikulieren.


Das Dilemma, welches sich aus dem unbegrenzten Schaffensdrang und den Grenzen materieller Akkumulation ergibt, diente der Künstlerin als Anstoß für diese Bildserie. Ihr Interesse daran ist zurzeit kein Einzelfall. Es geht aus der Nachhaltigkeitsdebatte hervor, welche aktuell nicht nur den öffentlichen Diskurs sondern auch die Inhalte und die Praxen der Kunst maßgeblich prägt. Dabei beschränkt sich Lützel-Walz nicht auf die sachliche Wiederverwendung von Leinwänden, einem ökologisch bewussten Upcycling Konzept folgend. Die Bildsprache, die sie durch die lebendige Wechselbeziehung zwischen Alt und Neu in ihren „Übermalungen” artikuliert, lässt sich als ein achtsamer, wertschätzender Umgang mit den vorhandenen Ressourcen – seien sie materiell oder geistig – interpretieren, der zwar stark herausfordernd ist, aber letztendlich gewinnbringend und zukunftsweisend sein kann.


Carolina Pretell, Kunsthistorikerin
Berlin, Oktober 2020




Darüber Rot

Bilder von einer bestrickenden farblichen Intensität, auf denen Magenta und Rot in unterschiedlichen Nuancen und Mischverhältnissen ihre Bahnen von oben nach unten ziehen. Zuweilen ist das Rot derart leuchtend, dass es das Auge beinahe blendet… wäre da nicht das Schwarz, welches dem Blick Halt und Struktur bietet. Dazwischen und dahinter eröffnen sich die Weiten eines schier unergründbaren Bildgrunds, aus denen unterschiedliche Gelb-, Graublau- oder Grüntöne einen markanten Kontrast zum Rot bieten. Es sind kraftvolle Bilder von einer massiven Präsenz. Sie ziehen uns spürbar in ihren Bann und fordern immer wieder von neuem zur Betrachtung auf. Und zugleich strahlen sie eine Ruhe aus, die ganz im Gegensatz zu ihrer Intensität zu stehen scheint.

Darüber Rot hat Dörte Lützel-Walz die Serie betitelt, deren erste Arbeiten 2012 unter dem Eindruck einer Island-Reise entstanden sind. Inspiriert haben die Künstlerin die dortigen Lichtphänomene, die sie eingehend beobachtete und deren subjektive Erfahrung sie seither in die Malerei übersetzt. Der Auftrieb von Lebenskraft, den sie im Licht des Nordens erlebt hat, hat die Farbwahl beeinflusst, denn die Farbe Rot erlebt sie als pure Energie. Lützel-Walz bezieht sich dabei auf einen ganz bestimmten Farbton, den der Himmel das menschliche Auge beim Anblick des Sonnenuntergangs wahrnehmen lässt: eine Farbe, in der immer Magenta, das helle Purpur, enthalten ist. Manche Bilder wie Anfang oder Durchblick setzen die Himmelsassoziation automatisch frei, wenn ein leuchtendes, kräftiges Gelb zwischen den Rinnsalen hindurchzuscheinen versucht.

Mit Darüber Rot bleibt Lützel-Walz sich als Künstlerin treu, erscheint die Serie doch als schlüssige Weiterentwicklung ihres bisherigen Schaffens. Das Hauptthema ist die Farbe geblieben, deren Laufverhalten auf ungrundiertem Nessel Lützel-Walz in Anlehnung an Informel und Abstrakten Expressionismus von Anfang an zum bildgestaltenden Element erhoben hat. Farbe, die die Künstlerin in zuweilen gestisch oder graphisch anmutender Manier ihre Bahnen über den Stoff ziehen lässt. Das Besondere bei Darüber Rot ist, dass Lützel-Walz beides – Gestisches und Graphisches – stärker miteinander verschränkt, als dies bislang der Fall war. So ist bei Durchblick der für die Künstlerin charakteristische gestische Bogen in der Bildmitte besonders gut sichtbar, über den die Laufspuren von oben nach unten ihren graphisch anmutenden Schleier vor den Bogen ziehen. Dadurch entsteht ein bemerkenswertes Spannungsfeld zwischen Verdichtung und den sich dahinter öffnenden Tiefen des Bildgrunds. Manche Bilder wie Verdeckt und Verschlossen weisen eine derartige Verschränkung der Rinnsale auf, dass das Auge lediglich einen Hauch des Bildhintergrunds ertasten kann. Dennoch bleibt letzterer deutlich weniger verborgen, als es bei der früheren Serie Stille Wasser der Fall war, wo das Graphisch-Abstrakte die Assoziationen von Organisch-Vegetabilem weitgehend verdrängt hatte.

Unterschiedlich zeigt sich zudem die Beschaffenheit der Farbspuren. Manches Mal bleiben sie in ihrem Verlauf dünn. Zuweilen bewegen sie sich in die Breite, wie das Schwarz, welches wie verwässerte Tinte seine rein vertikale Ausrichtung zu verlassen scheint. Das Magenta verbindet sich mit dem darüber lagernden Karmin- oder Cadmiumrot, schillert von bläulich-kühl hin zu leuchtend-kräftig. Auf dem Bildträger entsteht so eine wahrhaft kontrastreiche, changierende Bewegung, die das Auge vor immer neue Herausforderungen stellt.

Darüber Rot offenbart eine erstaunliche Vielfalt, die sich zum einen in der unterschiedlichen Verschließung und Öffnung des Bildraumes mitteilt sowie in der Kombination und Verschränkung der Farben, insbesondere der unterschiedlichen Rottöne. Das Kontrastreiche resultiert nicht zuletzt aus den unterschiedlichen Assoziationen, welche letztere auslösen: Rot bedeutet Wärme und Energie, aber auch Aggression und Zorn. Es steht für Autorität und Würde. Rot warnt vor Gefahr. Und zugleich ist es die Farbe des ersten von sieben yogischen Chakren, des Wurzelchakras, welches unsere energetische Verbindung zur Erde darstellt. Genau diese Vielschichtigkeit der Bedeutungsebenen, die jeglicher eindimensionaler Interpretation von vornherein entgegenwirkt, beschreibt das Wesen der Arbeiten von Dörte Lützel-Walz.

Text: Sylvia Dominique Volz, Berlin, Dezember 2013


Im Fluss der Farbe

Rinnsale aus schwarzer und gelber Farbe laufen in vertikaler Richtung die großformatige Leinwand hinunter. Fast scheint es, als ob sie noch nass, immer noch im Fluss ihrer Bewegung begriffen wären. Manchen gelingt es, sich den Weg beinahe ungemischt bis zum untersten Bildrand zu bahnen, andere wiederum büßen auf halber Strecke ihre Autonomie ein, geben von ihrer reinen Leuchtkraft ab, zugunsten vielfältiger Schattierungen in unterschiedlichen Gelb- und Grüntönen. Tastend versucht unser Auge durch die schleierartigen Vertikalen hindurchzublicken. Und tatsächlich scheint es so, als ob sich dahinter die Weiten eines undefinierbaren Raumes öffnen. Etwa in der Bildmitte gewährt eine horizontal angelegte, bogenförmige Bewegung der berechenbaren Abwärtsbewegung der Rinnsale Einhalt und erweckt so Assoziationen an eine Wasserfläche, die das obere Bild gespiegelt nach unten hin abgibt.

Als Flussgefließe, bezeichnet Dörte Lützel-Walz ihre Arbeit; „Flussgefließe” als lautmalerische Übersetzung der Wortschöpfung „Riverrun” von James Joyce. (Fred Thieler, ein bedeutender Vertreter des Informel, nennt eine ganze Werkgruppe so). In Anbetracht oben beschriebenen Bildes, das den abstrakten Titel Dichtes Gelb mit Indischgelb (2009) trägt, wirkt diese Tautologie allzu treffend, wird sie doch der Vielzahl der Farbläufe durchaus gerecht. Lützel-Walz, die ihr Studium an der Freien Akademie für Malerei in Berlin 2009 als Meisterschülerin von Ute Wöllmann – ihrerseits eine Baselitz-Elevin – abschloss, hat Farbe von Beginn an zu ihrem Hauptthema erhoben. Farbe in ihrer Bedeutung als Urkraft und Energieträger, als treibender Motor und zugleich auch sinnliches Erlebnis. Farbe als subjektive Übersetzung des Atmosphärischen, welches die Künstlerin aus der Natur schöpft: „Es geht mir in meiner Malerei nicht um ein Abbild der Natur, sondern um die Abstraktion dessen, was mich beim Anblick einer Landschaft gefühlsmäßig bewegt.” Ein Bild von Natur entsteht, das fest verankert ist im Spiegel der eigenen Empfindung. Einen ganz wesentlichen Stellenwert nimmt dabei der Schaffensprozess der Bilder ein. Dass die Künstlerin Farbe nicht mit einem Pinsel auf den Bildträger bringt, sondern schüttet, erscheint geradezu folgerichtig. Dieser Akt bedeutet Aufgabe von Kontrolle, die Visualisierung der wesensimmanenten Kraft der Farbe, deren flüssiger Aggregatszustand zum Bild gestaltenden Element wird. Wir denken dabei an Stilrichtungen wie den Abstrakten Expressionismus und das Informel, in denen Schaffensprozess und Farbe in vergleichbarer Weise die Herrschaft über das Bild einnehmen.

Faszinierend plastisch wirken die Bilder von Dörte Lützel-Walz. Umso erstaunter nehmen wir dies wahr, wenn wir uns ihnen nähern und erkennen, dass die Farben in der Fläche verhaftet bleiben. Dabei sind die Bilder in unzähligen dünnen Schichten entstanden. „Mit mehr oder weniger stark verdünnter Acrylfarbe entstehen auf teils nassem Untergrund Farbspuren, die verlaufen, sich verdichten, sich überlagern und wechselseitig durchdringen. Immer neue Schichten lassen die einzelnen Farbspuren kaum noch erkennen, führen jedoch zu einer subtilen Art der Räumlichkeit”, so beschreibt die Künstlerin ihre Technik, die sie sich in einem langen Prozess erarbeitet hat. In schier unermüdlichen Studien beobachtete sie den Lauf der Farbe und ging der Frage nach, wie sich diese verhält, wenn man ihre Dichte verändert und auf unterschiedliche Stoffe schüttet. Lützel-Walz verwendet keine traditionelle grundierte Leinwand als Basis, sondern ungrundierten Nessel, einen leicht beweglichen Stoff, in den die verdünnte Acrylfarbe einsickern und sich atmosphärisch ausbreiten kann. Hier zeigt sich deutlich nicht nur der Einfluss des erwähnten Fred Thieler, sondern ebenso der Vertreter des Abstrakten Expressionismus wie beispielsweise Helen Frankenthaler, die ungrundierte Leinwände mit stark verdünnter Ölfarbe einfärbte – eine Technik, die auch ihre Künstlerkollegen Jackson Pollock oder Morris Louis verwendeten. Insbesondere die Vorgehensweise von Lützel-Walz, Acryl und Schellack miteinander zu kombinieren, die sich auf dem Bildträger letztlich wieder entmischen und der Farbe sphärisch auslaufende Ränder verleihen, erinnert an Letztgenannten, der einen ähnlichen Effekt erzielte mit in Terpentin gelösten Pigmenten, die er auf den Bildträger goss. Die dabei entstehenden Strukturen erinnern durchaus an Organisches, an Landschaften oder Vegetabiles. Den sphärischen Eindruck verstärkt Lützel-Walz zusätzlich, indem sie die Farben an manchen Stellen mit Wasser wieder anlöst und auswäscht, als ob der Regen Spuren verwischen würde. Dass es, um die Farbintensität und atmosphärische Tiefe in Bildern wie Weisser Schleier (2009) oder Undurchdringlich (2009) zu erlangen, vieler Farbschichten bedarf, erstaunt angesichts dieser aufwändigen Technik nicht.

Das Farbspektrum ist entsprechend weit gefasst. Schwarz, Gelb, Blau und Grün in mannigfaltigen Tonarten finden sich in den Bildern. Mit der religions- und kulturwissenschaftlichen Bedeutung einiger spezieller Farben hat sich die Künstlerin intensiv beschäftigt. Dennoch lässt sich Lützel-Walz bei der Farbauswahl vom Unbewussten, von ihrer Intuition leiten. Oftmals könne sie sich ihre spontane Entscheidung selbst nicht erklären, stellt sie fest.

Trotz des praktizierten Kontrollverlustes, der Betonung des Unbewussten stellt sich die Künstlerin der Frage, wie Struktur geschaffen, der Zufall gelenkt werden kann. Wie lassen sich die Farbverläufe richtungsweisend kontrollieren? Dieser Widerspruch von einerseits Kontrollaufgabe und andererseits –Übernahme beschreibt den Spannungsmoment, der sich in den Arbeiten von Lützel-Walz auf so bemerkenswerte Weise zeigt. Tatsächlich offenbaren die Arbeiten von 2010 in zunehmendem Maße ihr Bestreben, Farbverläufe stärker zu lenken. War zuvor – bis auf den Ausgangspunkt des nahezu horizontal orientierten, gestischen Bogenlaufs – das Bild ausschließlich den vertikal ausgerichteten, amplitudenartig verlaufenden Rinnsalen verpflichtet, so weisen nun einige Arbeiten, wie „Kleines Rot im Grünen” (2010) eine subtile Gitterstruktur auf, die sich aus feinen vertikalen sowie horizontalen Linien zusammensetzt.

Eine weitere, parallele Entwicklung ist in den neuesten Arbeiten der Künstlerin festzustellen, welche eine bemerkenswerte Verdichtung und Reduktion dokumentiert. Lange, schmale Leinwände sind mit unzähligen, neben- und übereinander gesetzten Rinnsalen überzogen. Sie gewähren dem Betrachter kaum oder nur wenig Einblick in die dahinter befindliche Sphäre. Sie wirken noch abstrakter, naturferner, graphischer. Das Spiel der Farbflächen zeigt sich stärker gelenkt, ihr Zusammenspiel auf dichtestem Raum komprimiert. Lützel-Walz selbst bezeichnet die Bilder als „Experimentieren mit neuen formalen Gegebenheiten”. Die reduzierte Form des Bildträgers verlangt nach Verdichtung der Farbstrukturen, die sich auf den zuvor beschriebenen großformatigen Arbeiten in ganz anderer Art atmosphärisch entfalten können.

Die Entwicklung innerhalb des bisherigen Oeuvres von Dörte Lützel-Walz ist schlüssig und beeindruckend zugleich. Nach dem eingehenden Studium der Materialität von Farbe im Zusammenspiel mit dem Untergrund, hat sie ihr Werkzeug festgelegt. Sie hat sich an das Vorbild des Abstrakten Expressionismus und des Informel angelehnt, um sich letztlich davon zu emanzipieren und ihre eigene Position zu definieren. Nun gilt es, auf dieser schöpfungsreichen Basis den Weg der Abstraktion weiter voranzuschreiten.

Text: Sylvia Dominique Volz, Kunsthistorikerin, Berlin, Januar 2011